Ehrenamtliche Hilfe in vielfältiger Form, aber „keine karitative Geschichte“

„Jeder muss für seine eigenen Interessen eintreten, und das ist es, was wir erreichen wollen.“

Gespräch zwischen Fevronia (Fenia) Exakoustidou, Ärztin in der Sozialpraxis Kalamata und tätig im Netz Sozialer Solidaritäts-Ärztepraxen Messinias, und Dr. Michalis Bornovas, Vorsitzender des Vereins der Freunde des Netzes,

mit Renate Käsinger, Elke Vajen und Joachim Sohns, Mitglieder des Oldenburger Vereins zur Förderung der Sozialklinik Kalamata/Griechenland e.V., und mit Theodora Thomas-Tsoka sowie Hauke Thomas, Mitglieder des Böblinger Förderkreises für die Sozialpraxis. Theodora und Hauke übersetzten die Ausführungen ins Deutsche und ergänzten sie durch eigene Nachfragen und Erläuterungen.

 

Der angekündigte Erlass des Gesundheitsministeriums

Der Erlass des griechischen Gesundheitsministeriums vom 13.8.19, der die kostenlose Behandlung von Nichtversicherten verbietet und alle staatlichen Gesundheitseinrichtungen anweist, Leistungen den nichtversicherten Patienten in Rechnung zu stellen, sei noch nicht in Kraft getreten, man warte auf die Umsetzung. Es sei aber zu befürchten, dass der Erlass in Kraft treten werde - „wenn sie sich trauen“.

Die bisherige Regierung habe ein Gesetz erlassen, nach der alle Ausländer, die sich länger als sieben Jahre in Griechenland aufhalten, wie die griechischen Nichtversicherten die Sozialversicherungsnummer AMKA und damit Anspruch auf kostenlose Behandlung in staatlichen Krankenhäusern erhielten. Es gebe sehr viele Leute, die fünfzehn Jahre oder länger im Land seien. Es habe auf dieses Gesetz hin sehr viele Anträge auf Erteilung der AMKA gegeben. Deren Bearbeitung sei jetzt gestoppt worden. Die Anträge lägen jetzt beim Ministerium und ruhten dort.

Die möglichst zügige Bearbeitung dieser Anträge sei für die Sozialpraxis eine wichtige Sache, weil Leute, die keine AMKA haben, automatisch von der Praxis versorgt werden müssten. Das betreffe sehr viele Frauen, z. B. Frauen aus Georgien, die ältere Leute betreuen, oder Ehefrauen der hier lebenden albanischen Familien.

Deren Kinder seien nicht automatisch mitversichert. Die Eltern müssten sich an das Heimatland wenden und von dort den Nachweis mitbringen, dass es wirklich die eigenen Kinder sind. Das schaffe aber Probleme. Albanische Kinder, die in Griechenland geboren, aufgewachsen und in die Schule gegangen seien und die eigentlich nie wieder nach Albanien zurückgehen würden, hätten während der letzten Regierung die Möglichkeit gehabt, zwischen den Staatsbürgerschaften zu wählen.

Den Migranten dagegen, die weniger als sieben Jahre im Land gewesen seien, sei diese Möglicheit nicht eingeräumt worden, auch von Tsipras nicht. Aber es habe Erleichterungen für Migranten gegeben, die einen Nachweis für einen siebenjährigen Aufenthalt vorlegen konnten. Und diesen Nachweis hätten sie in der Sozialpraxis bekommen können, nämlich eine Bescheinigung, dass sie hier längere Zeit Patienten gewesen seien. Obwohl die Sozialpraxis keine staatliche Einrichtung sei, habe ein Nachweis von der Praxis Geltung gehabt.

Schwerpunkte der Arbeit und anfallende Kosten

Es sei so, dass es z. B. bei den Impfungen für Kinder manchmal sehr eng werde, weil die Eltern die Impfungen bezahlen müssen. Und wenn die Leute die AMKA bekommen, können sie sich vom Arzt ein Rezept ausstellen lassen und den Impfstoff kostenlos in der Apotheke erhalten. Ansonsten müsse das die Sozialpraxis bezahlen. Kinder zu impfen, sei momentan der größte Posten. In den ersten drei Oktobertagen habe die Sozialpraxis bereits 450 Euro für die Impfung von 11 Kindern ausgegeben.

Griechenland habe jetzt über 20.000 Flüchtlinge ohne Recht auf medizinische Behandlung, die versorgt werden müssten. Auf den Inseln sei das Problem riesengroß. Die Regierung wolle die Geflüchteten deshalb auf dem Festland verteilen. Jetzt sei es durchaus möglich, dass innerhalb kürzester Zeit auch in Kalamata ein neues Flüchtlingscamp eingerichtet werde. Dann habe die Sozialpraxis sofort einiges zu tun.

Notfälle

Es sei nach wie vor so, dass Notfälle immer ins Krankenhaus gebracht würden. Das Krankenhaus weise im Moment niemanden zurück. Sollte aber nach den Untersuchungen festgestellt werden, dass einer operiert werden müsse, der müsse dann zahlen. Notoperationen würden zwar sofort durchgeführt werden, aber die operierte Person müsse vielleicht dann hinterher ebenfalls zahlen. Dieses Problem betreffe alle Leute, die keine AMKA haben. Wenn jemand auf seinem Acker einen unversicherten Helfer habe – das sei um Kalamata herum bei der Olivenernte gang und gäbe – und dem passiere was: Den könne man ins Krankenhaus schicken, aber was dann passiere, das entscheide dann die Verwaltung. Sie sage, ab wann er was bezahlen müsse. Die Flüchtlingscamps dagegen würden nicht versorgt, obwohl sie voller Notfälle und lebensgefährlich kranke Leute dort seien.

Privat zu bezahlende Behandlungen

Leuten, die die AMKA haben, werde im Krankenhaus die Diagnose gestellt; dann sei es womöglich nötig, dass sie eine Sonderuntersuchung brauchen. Die Ärzte des Krankenhauses schicken sie z. B. zum Labor. Aber das zahle das Krankenhaus nicht mehr. Die Ärzte der Sozialpraxis hätten in der letzten Woche den Fall gehabt, dass eine Extrauntersuchung auf Hepatitis gemacht werden musste. Die Sozialpraxis habe es dann übernommen, für diese Untersuchung 100 Euro zu bezahlen. Es werde zwar vom Krankenhaus aus das Rezept ausgestellt. Aber es gebe kein Netz, keine Kooperation mit den niedergelassenen Ärzten in dem Sinne, dass die Kosten dann geregelt werden. Deswegen bekommen die Patienten nur einen Teil der Kosten erstattet, und deswegen müsse die Sozialpraxis in diesem Fall helfen. Labors oder z.B. die Praxen, wo MRTs vorgenommen werden, seien meistens Privatpraxen. Die meisten Krankenhäuser hätten keine solchen Einrichtungen. Die oben genannte Untersuchung sei eine Spezialuntersuchung gewesen, die nicht in Kalamata durchgeführt und nicht von den Ärzten des Unterstützernetzes habe übernommen werden können. Der Patient habe sich nach Athen wenden müssen. Das, was die Ärzte der Sozialpraxis hätten erreichen können, sei gewesen, dass sie in Verbindung mit dem Labor traten und auf einen geringeren Preis hätten drängen können. Sie zahlten jetzt 70 statt der ursprünglich verlangten 100 €.

Obwohl die Ärzte der Sozialpraxis den Staat haben fordern und auf keinen Fall Teil des öffentlichen Gesundheitssystems haben werden wollen, sei gerade das jetzt eingetreten. Denn sie geraten in Situationen, wo sie die Leute nicht alleinlassen können. Ein krasser Fall von Unterstützung des staatlichen Krankenhauses durch die Sozialpraxis sei folgende Notlage: Die Leute, die einen Endokrinologen brauchen, z. B. bei Schilddrüsenerkrankungen oder bei Diabetes, können in Kalamata nicht untersucht werden, denn es gebe in Kalamata im Krankenhaus keine Endokrinologen. Aber im Unterstützernetz der niedergelassenen Ärzte haben sie einen - und das Krankenhaus überweise die Leute an die Sozialpraxis! Diese übernehme dann diese Fälle. Nach dem Ende der Sommerpause, also nach dem 9. September, seien es fünf derartige Fälle gewesen.

Ein weiteres Beispiel von Finanzierungshilfe durch die Sozialpraxis sei Folgendes: Es gebe die Vorschrift, dass bei allen Schwangeren eine Pränataldiagnose durchgeführt werden müsse. Dafür brauche es einen Spezialisten in einer privaten Entbindungsklinik. Und auch diese müssten Schwangere mit einer AMKA oder ohne jegliche Versicherung selber bezahlen. Die Ärzte der Sozialpraxis hätten für sie erreichen können, dass ihnen die Hälfte des Preises erlassen werde. Sie seien also ständig am Verhandeln…

Hilfe bei Zuzahlungen für Medikamente und Behandlungen

Auch Versicherte könnten oft Medikamente oder Zuzahlungen nicht bezahlen. Diese Leute werden unterstützt, indem die Apotheke der Sozialpraxis diese Medikamente ausgebe – soweit sie vorrätig seien. Eine andere Möglichkeit der Hilfe sei, dass Leute, die nicht versichert seien, aber die die AMKA haben, von der Praxis unterstützt werden, indem sie die Zuzahlung übernimmt. Beispielsweise hätten von 115 € für eine Laboruntersuchung 15 € vom Patienten getragen werden sollen. Es gebe Leute, die von 400 Euro leben müssen. Dann seien zehn oder 15 Euro für das Rezept schon zu viel. In diesem Fall übernehme die Sozialpraxis die Zuzahlung. Oder ein Kind mit ziemlich akuten Herzproblemen habe nach Athen in die Pädiatrie gemusst, aber die Eltern konnten den Transport nicht bezahlen. Sie hätten auch versucht, über die Kirche oder auf anderem Wege Hilfe zu bekommen, aber vergeblich. Wenn alles nichts nütze, dann übernehme die Sozialpraxis den Transport. In allen diesen Fällen hätten die Menschen zwar die AMKA, würden aber von den öffentlichen Stellen nicht versorgt. Und wer nicht einmal die AMKA habe, müsse alles selbst bezahlen bzw. von der Sozialpraxis bekommen.

„Wie geht es weiter? Die Perspektive der Sozialpraxis?“

Die Sozialpraxis befinde sich nicht in einem Gemeinderaum, sondern in Räumen der Regionalinstitution. Diese habe die Ärzteinitiative von der Regionalverwaltung erhalten. Das Pikante sei, dass der ehemalige Bürgermeister, der die Initiative bisher „gejagt“ habe, seit den letzten Wahlen das Regierungspräsidium innehabe. Aber man gehe nicht davon aus, dass von dort neue Gefahr drohe, denn er habe sich in der Frage der Sozialklinik ein bisschen blamiert.

Doch bei den ehrenamtlich tätigen Ärzten und beim Unterstützerkreis seien Ermüdungserscheinungen festzustellen. Sie arbeiteten jetzt schon ziemlich lange, und nicht nur sie beide, sondern auch die Ärzte des Unterstützernetzes hätten an Euphorie und Energie ein bisschen eingebüßt. Das Organisatorische laufe auf jeden Fall, das bleibe bestehen. „Aber wir wollen irgendwie Energiequellen suchen.“ „Wir wollen nicht – wie die kirchlichen Institutionen – nur einfach Hilfe leisten.“ Das sei keine karitative Geschichte. „Wir überlegen uns, wie wir unsere Arbeit ausbauen, damit etwas Politisches hineinkommt.“ Sie wollten in die Öffentlichkeit gehen. Sie seien aufgebrochen mit dem Ziel, dass jeder, der in die Sozialklinik komme, auch Hilfe zur Selbsthilfe leiste und sich selber einbringe. In dem vorherigen Haus der Sozialklinik habe jede und jeder mitgeholfen beim Streichen, beim Instandsetzen, beim Putzen. Der Gedanke sei gewesen: „Ich helfe dir und du bringst dich auch ein.“ Es sei keine karitative Einrichtung gewesen. Jetzt drohe das zu kippen: „Wir spüren ein wenig Frustration bei den Leuten, die einfach Hilfe bekommen und zu Hause sitzen.“ Die Leute zum Beispiel, die in der Sozialpraxis ihre Medikamente erhielten, weil sie ihre Zuzahlung nicht leisten können, gingen nach Hause und wollten nichts davon wissen, wie man bestimmte Forderungen an den Staat stelle. Jeder müsse für seine eigenen Interessen eintreten. „Das ist es, was wir erreichen wollen! Wir wollen ein Profil haben, wo die Leute wissen: Es ist eine Institution, die auch für bestimmte gesellschaftliche Verbesserungen kämpft.“

Die Initiative arbeite vollkommen selbständig, es gebe keine staatlichen Unterstützungen oder sonstige Geldgeber. „Wir haben alles durch das Unterstützernetz und die Spenden und sind von niemandem abhängig.“ Das sei ihnen wichtig- und das bedeute, dass sie ihre Visionen trotz allem verwirklichen wollten. „Wir haben uns mit der Devise gegründet, dass wir als Institution überflüssig werden! Deshalb wollen wir diese besondere Eigenschaft dieser Institution hier herausstellen.“

Zwei Beispiele, wie die Arbeit ausgeweitet werden solle: Sie wollten in diesem Monat eine Antikriegsveranstaltung organisieren. Es werde auch eine Ganztagesveranstaltung zur Eugenik geben, die jetzt wieder ziemlich im Gespräch sei. Außerdem wollten sie sich bei verschiedenen Aktionen einmischen, bei denen es um die Probleme der Stadt gehe. Sie wollten nicht einfach nur die Leute in der Praxis empfangen, sondern sich auch nach außen zeigen und sich in die brennenden Fragen der Stadt einmischen. Auch die Klimafrage wollten sie mit den verschiedenen Trägern in der Stadt angehen. Diese politische Aktivität werde ihnen neue Kraft geben.

„Gibt es irgendwelche andere Vorhaben, die eure Arbeit bedrohen?“

Die Institution der Suchtbekämpfung sei bisher eine eigenständige Organisation mit einem selbstverwaltetem Apparat gewesen, die sehr große Verdienste habe und wunderbare Arbeit vorweisen könne. Es gebe jetzt aber im Parlament ein neues Gesetz, wodurch sie dem Staat unterstellt worden sei. Es liege der Gedanke nahe, dass die Pharmaindustrie dahinter stehe. In Zukunft werde Methadon eingesetzt werden. Bisher hätten da in ganz Griechenland namhafte Ärzte mitgearbeitet, die es nur mit Therapie und ohne Substitution versuchten. Und es gehe nicht nur um Heroinsüchtige, sondern auch um Spielsucht oder Alkoholsucht. Es sei eine Institution gewesen, bei der es die Ärzte, Patienten und die Familien gewesen seien, die die Beschlüsse fassten. Das neue Gesetz sei eine ziemliche Respektlosigkeit gegenüber den Menschen, die Hilfe benötigen - aber auch eine Disziplinierungsmaßnahme: So läuft das und nicht selbstbestimmt!

Die dritte Art von Rente aufgrund einer Zusatzversicherung sei bisher staatlich und solle nun privatisiert werden. Sie sei bereits unter dem Einfluss der Troika gekürzt worden, und nun werde die Lage der Versicherten noch unsicherer. Es gebe auch ein weiteres neues Gesetz, nach dem der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer jetzt ohne Begründung kündigen dürfe.

Zusätzlich sei das Universitätsasyl aufgehoben worden. In Griechenland habe es bisher ein Gesetz gegeben, das der Polizei verboten habe, einfach in die Universitäten hineinzumarschieren. Es habe dort eine Art Asylrecht gegeben. Und es habe noch weitere Eingriffe gegeben: Neulich habe der Unisenat darüber beraten, welche neuen Fakultäten oder Fächer eingeführt werden sollten – und das betreffe natürlich auch die Studenten. Normalerweise dürfe die Vertretung der Studenten an solchen Sitzungen teilnehmen. Die Polizei habe die Studenten jedoch am Eingang der Hochschule daran gehindert, in die Hochschule reinzukommen. Diese hätten ihre Legitimation vorgezeigt – dann hätten sie reingedurft. Doch der Senat habe noch einmal die Polizei geholt und sie hätten nicht an dieser Sitzung teilnehmen dürfen. „Es wird ziemlich markant an allen Fronten diszipliniert. Das ist die Sorge, die man jetzt hat.“

Was noch drohe: Es sollen die Abschlüsse der Universität und die Abschlüsse der privaten Hochschulen gleichgestellt werden. Bisher habe eine Abteilung im Ministerium die Abschlüsse geprüft und festgelegt, welcher Ebene ein solcher Abschluss zuzuordnen sei – jetzt werde die Anerkennung automatisch erfolgen. Es drohe die Gefahr, dass Abschlüsse nicht allein nach wissenschaftlichen Ansprüchen, sondern auch nach monetären Ansprüchen vergeben würden. (Zusammenfassung des Gesprächs durch Joachim Sohns)

   
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