Besuch in Kalamata
Im Mai 2016 besuchte ich für drei Tage Kalamata und das Sozialkrankenhaus. Betreut, versorgt, herumgefahren und weitergeleitet zu Aktiven in Messenien wurde ich von Falko und Monika. Sie leben in Kafou, ca. 45 km von Kalamata entfernt, und sind Teil des lokalen Netzwerkes „Kafou hilft“, das bestrebt ist, soziale Not mit Hilfe von Spenden zu lindern. Über Falko wurde der Kontakt zur Sozialklinik hergestellt und der Transport unserer Oldenburger Sachspenden nach Kalamata realisiert. Bei unserer Fahrt in die Innenstadt waren die Gegensätze zwischen Arm und Reich nicht zu übersehen: In den Häfen Yachten aus ganz Europa, dazu eine Riesensuperyacht eines griechischen Millionärs. Doch viele Geschäfte und Werkstätten sind verrammelt und die Cafes leer.
Trotz der offensichtlichen Krise ist Messenien „Samaras-Land“, eine der wenigen Landesteile, in der die Nea Dimokratia die Mehrheit hat – die Partei, die zusammen mit der PASOK verantwortlich für Vetternwirtschaft und Griechenlands Weg in die Krise ist. Und auch die faschistische „Alternative“ erhält Zulauf: Im Nachbarbezirk Lakonien erreichte die „Goldene Morgenröte“ bei den letzten Kommunalwahlen 27 %, in Kalamata 12 %. Staatsverschuldung und „Troika“-Herrschaft als Dauerzustand Am Baustil alter Häuser erkennt mensch die venezianische und osmanische Vergangenheit Kalamatas. Erst 1827 wurden die Osmanen vertrieben. Danach herrschte ein Königsgeschlecht, das sich gleich bei britischen Banken verschuldete. Schon damals kontrollierte eine Troika die Haushalte des griechischen Staates und verlangte immer wieder, zu sparen und Zinsen zu zahlen. Viele GriechInnen kennen den Staat traditionell als eine Institution, die viel nimmt und wenig gibt. Mein „Fremdenführer“ Falko stellte die rhetorische Frage: „Was kommt für den Griechen an erster Stelle? Die Familie. An zweiter? Die Familie. An dritter und vierter: die Familie. An fünfter vielleicht das Dorf. So haben sie die Zeiten überstanden. Die Familie als Lebensversicherung.“ In der aktuellen Krise ziehen viele StädterInnen wieder auf´s Land zu ihren Eltern oder Großeltern. Immer mehr Alte werden aus den Altersheimen herausgeholt, weil die Familien deren Rente zum Überleben brauchen. In den Gärten werden – zusätzlich zu den Oliven- und Zitronenbäumen – Nahrungsmittel angebaut.
Dramatische Zahlen
In Kalamata sind keine Bettler*innen zu sehen. Monika meinte, GriechInnen seien „maßlos stolz“, auch in der Not sei Betteln zu sehr mit Scham besetzt. Hilfsvereine bekommen nur indirekt „gesteckt“, dass da und dort Leute hungern, selber würden diese nie um Hilfe bitten. Und doch ist die Lage dramatisch. 2015 lag das Bruttoinlandsprodukt 27 % unter dem von 2008. Private Kredite werden kaum noch gewährt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 25 Prozent, bei hohen Auswanderungszahlen. Unter den jungen Menschen bis 25 Jahren ist jede/r Zweite arbeitslos.? Die Renten sind durchschnittlich um 45 Prozent gesenkt worden. Das Renteneintrittsalter stieg von 65 auf 67 Jahre. Im öffentlichen Dienst ist die Beschäftigung um 20 Prozent gesunken. 30 Prozent der Lohnbezieher*innen erhalten weniger als 5.000 € jährlich. Gleichzeitig stiegen die Steuern, die Mehrwertsteuer jetzt auf 24 Prozent, eine neue Immobiliensteuer wurde eingeführt. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen sank 2008 bis 2012 um 23 Prozent: das der oberen zehn Prozent um 17 Prozent, das des ärmsten Zehntels um 86 Prozent. Der Anteil der Bevölkerung mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze stieg binnen fünf Jahren von 27,6 auf 36 Prozent - und das, obwohl aufgrund der allgemein sinkenden Einkommen die Armutsgrenze um ein Drittel sank. 57 Prozent der Griechen hatten 2015 Probleme, die Wohnung ausreichend zu heizen oder die Familie adäquat zu ernähren. Viele Bauern hatten bei Kreditaufnahmen nach Einführung des Euro – es gab plötzlich niedrige Zinsen – ihre Olivenhaine verpfändet. Das „ist das Problem der Zukunft, wenn sie nun die Kredite nicht zurückzahlen können“, meinte eine Aktivistin des Hilfsnetzwerkes, neben der Pfändung der Häuser. Die Regierung Tsipras wurde gezwungen, das Moratorium zur Räumung und Zwangsversteigerung überschuldeter Häuser ab 1. Januar 2016 aufzuheben. Die Selbstmordrate nahm im Juni 2011 um 36 Prozent zu - und ist seitdem nicht mehr gesunken. Insgesamt kann ein Drittel der nicht altersbedingten Todesfälle den Entbehrungen der Krise zugeschrieben werden. Die Geburtenrate sank 2012 auf den niedrigsten Stand seit 1955, die Kindersterblichkeitsrate stieg um 43 Prozent an. Gegen die neue Flut an Rentenkürzungen und Steuererhöhungen gab es eine neue Welle von Demonstrationen und Streiks. Seit Januar streikten Anwälte und Richter. Im Mai bereiteten sich Lehrer*innen auf einen Ausstand vor. 2012 hatten Lehrer*innen drei Monate lang überhaupt kein Gehalt überwiesen bekommen. Das wiederholt sich seitdem regelmäßig – mal bekommen sie was, mal ein halbes Jahr nichts. Nie ist das Gehalt regelmäßig.
Kommunale und medizinische Notlage, Arbeit lokaler Hilfsnetze
Sigrun und Waltraud begleiteten mich zur Sozialklinik. Sie sind in einem Unterstützerkreis „in der Mani“ tätig, ca. 80 km südlich von Kalamata. Dieser versorgt u. a. ein Altersheim. Aus diesem kam vor drei Jahren die Nachricht: Die alten Menschen haben seit drei Tagen nichts mehr zu essen! Als Vertreter*innen der Initiative dort eintrafen, stellten sie fest: In der Tat kein Essen, keine Seife, keine Windeln, Diabetes-Kranke seit einem Monat ohne Insulin. Inzwischen kaufen wöchentlich zwei Betreuer für 150 € ein, liefern und kümmern sich um Bewohner*innen¹º. Kinder erhalten von dem Hilfsnetzwerk Schulzubehör gespendet, weil viele Familien keine Ranzen oder Hefte oder Buntstifte mehr bezahlen können. In Kalamata unterstützt es die Behindertenschule, die vor fünf Jahren wegen Finanznot fast geschlossen worden wäre. Parallel dazu sind dem lokalen Bürgerverein „in der Mani“, der sich ursprünglich um die Förderung der Feuerwehr gekümmert hatte, aufgrund der kommunalen Finanznot öffentliche Aufgaben zugewachsen, z. B. das Fahren von Krankenwagen. Schon vor 2010 war die „soziale Infrastruktur“ in den Gemeinden unterfinanziert, danach wurden die Gemeindehaushalte immer wieder von der Zentralregierung zur Finanzierung der nötigsten Kosten und Zinsen ab- und eingezogen. Wozu das führt, zeigt auch ein Beispiel aus dem Dorf Kafou: Räume in der Schule waren verschimmelt. Im Winter gab´s keine Heizung, sodass Schüler*innen und Lehrer*innen mit Jacken und Mützen in die Schule gehen mussten. Der Unterstützerkreis „Kafou-hilft“ reparierte schließlich Dachrinnen und Heizungen. Krankenhäuser „ausgebeint“ Genauso zeigt sich die Krise in den staatlichen Krankenhäusern: Sie verkauften mit Beginn der staatlichen Geldnot ihre großen Apparaturen, um die laufenden Kosten zu finanzieren. Ebenso wenig sind in den staatlichen Krankenhäusern die notwendigen Medikamente verfügbar, z. B. fehlen Mittel gegen Schlangenbisse. Auch fehlt es dort an Personal (oder Geld) für die nichtmedizinische Versorgung der PatientInnen. Angehörige kümmern sich um Essen oder Toilettenbegleitung. Aus Rationalisierungsgründen werden große Operationen nur noch in Athen vorgenommen. In den staatlichen Krankenhäusern gab es lange Zeit keine richtige Schmerzbehandlung mehr, z. B. für KrebspatientInnen, weil Medikamente wie z. B. Opiate fehlen. „In manchen Heimen oder Krankenhäusern hört man die Alten vor Schmerzen schreien“, berichtete eine Helferin. Opiate für KrebspatientInnen im Endstadium stellte die Regierung aber vor Kurzem wieder zur Verfügung. Aufgrund der Sparprogramme stehen keine Mittel für saubere Spritzen oder Kondome mehr zur Verfügung. Entsprechend nahm die Zahl der HIV-Neuinfektionen unter Süchtigen stark zu: von 15 Fällen 2009 auf fast 1000 2013. Auch Infektionen mit Tuberkulose verdoppelten sich unter Drogenabhängigen. Psychische Erkrankungen haben ebenfalls stark zugenommen, die Sozialkliniken versuchen, kostenlose Therapien zu ermöglichen. Angesichts dieser allgemeinen Notlage und des Drucks der Troika ist es fraglich, ob die Regierung Tsipras ihr Ziel erreichen kann, dass wieder alle Menschen in Griechenland Zugang zu notwendiger medizinischer Behandlung erhalten.
Keine Impfungen
Seit fünf Jahren sind die Kinderjahrgänge nicht mehr durchgeimpft. Impfstoffe sind zwar vorrätig, aber Staat und Krankenhäuser haben kein Geld, sie zu kaufen. Impfungen müssen privat bezahlt werden, und dazu sind viele Eltern nicht in der Lage. Die Gefahr von Massenepidemien wächst. Eine weitere Folge des Fehlens einer allgemeinen Krankenversicherung: Bei auffällig vielen Kindern gibt es schlimme unbehandelte Verwachsungen, die in Deutschland längst – kurz nach der Geburt – operiert worden wären. Eigentlich darf ein Kind in Griechenland nur eingeschult werden, wenn es vollständig geimpft ist. Der Vorsitzende von Kafou-hilft hatte in der Not mal für 500 € Impfstoffe besorgt, damit Kinder am Ort geimpft und dann eingeschult werden konnten. Doch wie ich erfahren musste, achten die Behörden nicht mehr überall darauf, ob die Kinder vor der Einschulung geimpft sind. Sie wissen, dass das nicht passiert ist und sie das nicht mehr einfordern können.
Besuch im Sozialkrankenhaus
Das Sozialkrankenhaus ist im ehemaligen Schwesternwohnheim untergebracht. Künstlerische Graffiti zieren die Außenwände, innen ist es in ehrenamtlichem Einsatz vollständig renoviert und hergerichtet worden. Dort arbeiten in Teilzeit sechs Allgemeinärzte und -ärztinnen, sechs Zahnärzte und ein Kinderarzt, ein Apotheker, ein Psychiater – alle ohne Bezahlung. Ihnen stehen über 40 Sekretärinnen, ApothekenhelferInnen, Schwestern und andere „volunteers“ mit zeitweisen Arbeitseinsätzen zur Seite. Wenn eine Behandlung nicht im Sozialkrankenhaus durchgeführt werden kann, werden die PatientInnen zu der Klinik verbundenen Privatärzten geschickt, die diese Behandlung dann kostenlos durchführen. So behandeln örtliche Röntgenärzte Patienten kostenlos, die von dort überwiesen werden, da die Sozialklinik noch kein Röntgengerät hat. Ebenso gibt’s für diese PatientInnen kostenlose OP-Termine in staatlichen Krankenhäusern. Ganze Familien und immer mehr junge GriechInnen kommen. Mensch geht hin und bekommt eine Tageszuweisung, an der die Behandlung stattfinden kann. „Heute ist Freitag – heute wäre Zahnarzttag,“ hieß bei unserem Besuch. In letzter Zeit ersuchen vermehrt chronisch Kranke wie z. B. DiabetikerInnen um Hilfe, die ihre regelmäßigen Medikamenteneinnahme nicht mehr finanzieren können. Nach der innergriechischen Zuweisung einer Flüchtlingsquote nach Kalamata wird es eine noch größere Nachfrage nach kostenloser Behandlung geben.
Es empfing uns der ärztliche Koordinator Dr. Tasos Poulopoulos. Er hatte sich extra für uns freigenommen und einen Ärztekongress verlassen. Er berichtete, er komme einmal pro Woche, am Mittwochmorgen, neben seiner „normalen“ Arbeit als Direktor eines Dialysezentrums und einer Nierenklinik. Er führte uns durch die Räume und erläuterte. Mittwochs sei „Kindertag“, und dann sei immer „der Teufel los“.
Der behandelnde Kinderarzt erzähle, er müsse immer mehrere T-shirts mitbringen, so durchgeschwitzt sei er regelmäßig. Er klage aber auch, er sei wieder mit Mangel-Krankheiten konfrontiert, von denen er geglaubt habe, sie gäbe es nicht mehr, z. B. Rachitis.
Im Zahnbehandlungsraum weist Dr. Poulopoulos auf eine neue Apparatur hin, die die Klinik gerade für den wahrhaften Freundschaftspreis von 1.000 € statt der angemessenen 30.000 € von einem Zahnarzt in Saloniki erworben habe. Auch sei ein neues Röntgengerät für Zahnbehandlungen für 4.000 € erworben worden. Pro Jahr brauche die Klinik ca. 10 bis 20.000 € an Barmitteln – neben den Sachspenden wie Medikamenten, Gebrauchsmaterialien und Geräten. So sei ein Ultraschallgerät gespendet worden.
Dann folgte ein Blick in die Apotheke des Krankenhauses – mit Gitterstäben gegen Einbruch abgesichert. Das Krankenhaus erhält Medikamentenspenden von vielen Seiten in Griechenland, aber auch aus England, Frankreich oder Deutschland. Dr. Poulopoulos betonte: Die Apotheke werde betrieben und überwacht von ausgebildeten PharmazeutInnen. Alle Ärztinnen und Ärzte achten darauf, dass alles qualitativ gut sei und niemand in Gefahr gerate. Waltraud merkte an, dass auch staatliche Krankenhäuser von den Sachspenden an die Sozialkliniken profitieren. So beliefere die Sozialklinik in Athen ein Uni-Krankenhaus mit nicht benötigtem Material, denn das habe zeitweise nicht einmal mehr über Rollstühle oder Verbandsstoffe verfügt. Dr. Poulopoulos berichtete, dass aus Deutschland Impfstoffe herübergeschickt worden seien, die aber bei der Ankunft verdorben gewesen seien, weil die Kühlkette nicht habe eingehalten werden können. Deshalb müssen schnell verderbliche Medikamente in Griechenland eingekauft werden. Das gelte auch für Insulin, das in den Kliniken nicht vorrätig sei. Auch fehle Füllungsmaterial für die Zahnbehandlung. Der gemeinsame Besuch dauerte ca. zwei Stunden. Ausführlich erklärte der Koordinator die Arbeit der Klinik, kommentierte aber auch kritisch - angesichts der Ankunft zehntausender Flüchtlinge - die Flüchtlingsbetreuung durch ausländische NGOs, die sich nicht auf die lokalen Gegebenheiten einstellten. Er wies auf die Überforderung Griechenlands durch die 60.000 Refugees hin und erklärte, dass von der versprochenen Hilfe der EU fast nichts angekommen sei. Er betonte aber, dass die Klinik gleichermaßen GriechInnen wie MigrantInnen versorge. Sein Ausblick war düster: Hilfe vom Staat erwarte er nicht mehr. Angesichts der Konflikte mit Spanien und Portugal solle an Griechenland ein Exempel statuiert werden. Griechenland sei ein Versuchslabor, um auszuprobieren, was an Sozialkürzungen durchsetzbar sei. (Joachim Sohns)